Mittwoch, 30. November 2011

Mit zwei Karten ein gemachter Mann

Eine der Sachen, die mich in Paris dauerhaft faszinieren, ist das Kino. Es ist so beliebt wie bei uns IKEA an einem Sonnabend-Vormittag. Zuweilen glaube ich, mich in den Anfangszeiten der Kinematografie zu befinden, so viele Menschen stehen an manchen Tagen an. Besonders schlimm ist es an und vor Feiertagen. Da werden die Leute unruhig, schubsen und es kann schon mal passieren, dass man keine Karte mehr bekommt. Ich kann mich nicht erinnern, dass mir so etwas nach der Wende in Berlin passiert ist. Neulich war ich mit meiner Bekannten Sarah auf einen guten Film aus. Les Intouchables kam gerade neu in die Kinos. Eine ewig lange Schlange wartete schon vor dem Kinopalast Odeon. Und Sarah kam wie immer zu spät. Selbst die reservierten Karten wurden alle von ihren Käufern abgeholt. In Berlin wäre der Abend gelaufen. Man wäre stinkig auf dem Zuspätkommer und würde was trinken gehen.
Nicht so in Paris. Sarah kennt die Szene und will sogar Cinema studieren. Wortlos zwinkerte sie mir zu, lotste mich zu der nächsten Station der Leihfahrräder und wir waren in zehn Minuten beim nächsten Kino-Tempel. Die Vorstellung kam etwas später, wir waren drin und der Saal ebenfalls ausverkauft.
Zwei Dinge sollte man sich wirklich besorgen, wenn man länger in Paris bleibt. Ein Karte der Firma Velib (das sind die Leihfahrräder) und eine Jahres-Kino-Karte. Mit diesen zwei Karten ist man ein gemachter Mann und kann viele interessante Abende sehr preiswert verbringen.
Velib verlangt 35 Euro für ein Jahr. Zu diesem Tarif kann man sich die Räder der rund 4000 Stationen ausleihen und eine halbe Stunde am Stück benutzen. Gratis. Diese halbe Stunde sollte man einhalten, sonst wird´s teuer. Ich habe selbst mal die Erfahrung gemacht, weil die Station an der ich mein Rad angedockt hatte, irgendwie den elektronischen Funkcode nicht lesen konnte. Am nächsten Tag, als ich wieder ein Rad ausleihen wollte, wurde ich von dem Stations-Monitor darauf aufmerksam gemacht, dass ich noch ein Rad in Gebrauch habe. Was natürlich nicht stimmte, mir aber Angst machte, weil ich wusste, dass die Preise mit jeder halben Stunde nahezu potentiell steigen. Wenn mir meine Mitbewohnerin Maja nicht geholfen hätte, hätte ich über 200 Euro zahlen müssen. Die Firma konnte aber zum Glück nachvollziehen, welche Docking-Station eine Macke hatte.
Ein eigenes Fahrrad zu kaufen macht hier keinen Sinn. Nicht nur weil Velib so günstig ist und man innerhalb einer Stunde fast alles erreicht hat. Auch, weil ein eigenes Fahrrad in Paris nicht lange ein eigenes Fahrrad bleibt, sondern, wie mir hier jeder sagt, rasch den Besitzer wechselt. Sehr rasch. Wer Rad fährt in Paris sollte einen kräftigen Daumen haben und außerdem mutig sowie  sehr vorausschauend sein. Ich glaube manchmal, dass das Fahrrad noch etwas sehr exotisches ist hier. Die meisten Autofahrer zum Beispiel sind der festen Überzeugung, dass sich ein geradeaus fahrender Radler einem rechtsabbiegendem PKW unterordnen muss. Man erkennt das Gesicht eines ausländischen Radfahrers an einer Pariser Kreuzung schnell an den weit aufgerissenen Augen. Ach so: Den dicken Daumen benötigt man übrigens für den Dauerbetrieb der Klingel.

Die Kinokarte ist ungefährlicher, dafür etwas preisintensiver, lohnt sich aber. Ein einzelner Besuch in einem der rund 650 Filmtheater (Berlin hat an die hundert Kinos) kostet rund zwölf Euro. Die Magnetkarte "UGC-Illimité-Express" der Firma UGC (ein großer Kinokonzern) hingegen kostet pro Jahr (!) 25 Euro plus 18 Euro monatlich. Und dann kann man in den Kinos der UGC-Kette Filme schauen bis man rausgetragen wird. Das lästige Warten an der Kasse fällt weg, denn mit der Karte zieht man sich sein Ticket an einem Automaten. Zugegeben: An manchen Tagen stehen sogar Schlangen an diesen Maschinen.
Doch so manche Ausfallstunde der Uni habe ich schon vormittags in einem Kinosaal verbracht, in dem ein Dutzend Leute saß. Mein Stammkino unweit des Centre Pompidou zählt 20 Säle. Man hat keine Mühe, einen Film zu finden, der einen interessiert und innerhalb der nächsten 30 Minuten anfängt. Da fällt mir ein: Ich könnt schon wieder.  

Sonntag, 30. Oktober 2011

Kleinere Detonationen


Ich hatte mich ja schon einmal an dieser Stelle gewundert, warum die Leute aufgrund der Enge in Paris nicht ausrasten sondern immer, naja sagen wir fast immer, höflich sind. Warum sie seelenruhig wie indische Kühe bei Rot über die Straße schlendern und die Autos nicht hupen. Louiza hat mir neulich erzählt, dass sie an einer kleinen Gruppe eifrig erzählender Frauen vorbei wollte. Bürgersteig eng. Straße stark befahren. Als sie darum bat, dass man Platz machen möge, erwiderte eine der Frauen: "Pardon Madame, wir haben unser Gespräch noch nicht beendet." 

Allmählich verstehe ich, dass die einzig wahre Antwort und die wirklich effizienteste Waffe gegen den Stress eine gehörige Portion Phlegma ist. Während auf der Frankfurter Allee in Berlin der Schmalspur-Schumi auf die Hupe boxt, weil in hundert Meter Entfernung eine alte Frau mit Krückstock nicht schnell genug über die Straße humpelt, wird hier in Paris mindestens zwei Ampelphasen gewartet, bis der Baguette-Lieferant in vorderster Reihe aus dem Tagtraum gerissen wird.  

Dennoch: So ganz ohne Zwischenfälle läuft der Pariser Alltag auch nicht ab. Ich glaube, der angestaute Stress entlädt sich in kleineren Detonationen. Diese Woche wurde ich Zeuge einer solchen Entladung an der Supermarktkasse. Ein Mann, der nur ein Thunfischsandwich in der Hand hielt, fragte mich, ob ich ihn vorlassen würde. Ich machte selbstverständlich Platz. Die Dame vor mir war nicht so großzügig sondern machte ihn sehr laut darauf aufmerksam, dass ein freundliches "Bitte" doch das Mindeste sei. Der Mann seinerseits war so erschrocken, dass er sich spontan dazu entschied, gleich komplett die Kasse zu wechseln. Er murmelte dabei etwas, was ich nicht verstand. Es muss etwas Unanständiges gewesen sein, denn es brachte die Frau vor mir dazu, nun ihre ganze Kraft in die Stimme zu legen, damit auch die Menschen am anderen Ende des Supermarktes erfahren können, was für ein übler und unfreundlicher Zeitgenosse hier einkauft. Von da an wechselten sich die beiden in den Beleidigungen ab. Er unterstellte ihr zunächst, sich zu prostituieren, woraufhin Sie unter anderem seine Mutter bezichtigte, ebenfalls ihren Körper feilzubieten. Das ging in ähnlicher Weise weiter und wurde immer heftiger. Hierbei sei erwähnt, dass es sich um zwei Bürger mit so genanntem Migrations-Hintergrund handelte. Das ist an sich nicht nennenswert, schon gar nicht von mir, weil ich ja selbst Ausländer bin. Aber in dieser Situation fand ich es komisch, weil sie sich unter anderem gegenseitig vorwarfen, nicht richtig französisch zu können. Die beiden wurden immer lauter und die anderen Kunden immer stiller. Selbst, als die Frau ihre Sachen einpackte und er immer noch (wegen ihr) zwei Kassen weiter wartete, ja sogar draußen auf der Straße gab’s verbale Haue. Er, den Mund voller Thunfischsandwich (kleine Stückchen davon flogen durch die Luft), und sie, mit ihrer Rolltasche, schon in einiger Entfernung die Faust in die Luft boxend. Beide wollten das letzte Wort haben, bis die Frau an der nächsten Ecke verschwand. Dann war alles wieder wie vorher.
Die Googlekamera war offensichtlich unauffälliger als meine.

Ein anderes Mal war ich mittendrin im Epizentrum. Ich habe einen Kaffee in der Marktstraße in meinem Viertel getrunken und das lebhafte Treiben beobachtet. Ich wollte das einfach mal festhalten, zog meine Kamera aus meinem Rucksack und drückte ab. Eine Frau, die auf einem Pappkarton bunte Tücher ausgebreitet hatte und sich gerade von ihrem Verkaufsgespräch abwandte, bekam das mit. 


Der Markt an sich hat im Prinzip schon einen enormen Geräuschpegel. Dennoch schaffte es diese Frau, mit nur mit ein paar Sätzen die Aufmerksamkeit der halben Straße auf sich und dann auf mich zu lenken. Offensichtlich mögen die Leute in dieser Straße nicht fotografiert werden. Die Frau gebärdete sich nämlich, als wenn sie mich gerade dabei ertappt hätte, ihr Kind zu entführen.
Wie ich schon ungefähr vermutet hatte, sind die Pappkarton-Stände mit den Dolce&Gabbana-Gürteln, mit den hochwertigen Uhren und Sonnenbrillen, und mit den DVDs der aktuellsten Kinofilme nicht hundertprozentig legal. Jedenfalls beschuldigte mich diese Frau, für die Polizei zu spitzeln. Das Wort Polizei hat eine ganz besondere Wirkung in dieser Straße. Die Blicke aller Umstehenden liefen sofort wie die Straßen am Arc de Triomphe auf mich zu. Ich fühlte mich an meinem kleinen Kaffeetisch ein wenig in der Klemme. Darum entschloss ich mich, so unschuldig wie möglich zu schauen, das Wort Tourist zu meiner Rechtfertigung anzuwenden und mich mehrmals zu entschuldigen.
Ich dachte später daran, warum ich es eigentlich war, der sich schuldig fühlen muss. Praktisch die ganze Straße betreibt illegale Geschäfte, jeder der Händler hat ein Auge auf seinen Stand und eins auf die Straße. Immer die Angst im Nacken, die Polizei könne kommen und die komplette Ware konfiszieren. Und ich, der einzige, der ganz legal dort ist, der vielleicht ein paar Bananen aber niemals eine Raubkopie kaufen würde, der nur ein Bild machen will, weil er die Fotografie als Hobby betreibt. Der läuft Gefahr, mit dem Riemen seiner Kamera aufgeknüpft zu werden. Auf meinem Grabstein würde stehen, dass ich nun für Google-Earth arbeiten könne.     
So weit ist es zum Glück nicht gekommen. Mein Unschuldsblick und meine unfreiwillige Gesichtsröte wirkten. Die Frau meinte zwar noch, dass alle Touristen foux, also blöd oder verrückt, seien. Aber die Situation entspannte sich zusehends. Von einer umfangreichen Fotoreportage über die Leute in der Marktstraße nehme ich vorerst Abstand.

Donnerstag, 20. Oktober 2011

tüvoaskschwötedir?

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Lieber Gott, lass mich Französisch verstehen. Und zwar viel und bald. Der Hauptgrund, warum ich hierher gekommen bin, war, endlich diese Sprache zu lernen. Ich mochte sie, glaube ich, schon immer. Schon als Kind, als mein älterer Bruder die Beatles Schallplatte mit dem Lied Michelle rauf und runter gehört hat. Oder als meine Eltern mir die Marseillaise beigebracht haben.  Damals waren es nur wohlklingende Laute, die ich auswendig nachplapperte, ohne mich wirklich für den Sinn zu interessieren. 
Und nun kann ich mich auch schon unterhalten. Mein Gesprächspartner muss zwar Geduld haben und mich mögen. Denn ich muss oft nachfragen und abgesehen von den fragenden Worten, setze ich (teilweise schon unabsichtlich) ein ratloses Gesicht auf, wenn etwas unklar ist. Wenn mir nur ein Wort im Satz fehlt, kann die ganze Info den Bach runter gehen. 
Manchmal frage ich auch nicht. Dann nicke ich zu den fremden Worten verständnisvoll und interessiert. Und wenn ich Glück habe, ist der Erzähler ignorant genug, um nicht ein gleichberechtigtes Gespräch zu erwarten, bei dem ich etwa auch mal was sagen will. Das ist dann der Zeitpunkt, ein neues Thema zu eröffnen. Zum Beispiel mit: Hast Du eigentlich schon Hausaufgaben gemacht? Aber wer will einem schon verübeln, wenn man nicht gleich die schwierige französische Buchstabensuppe auseinanderdefinieren kann.
Wenn jemand "tüvoaskschwötedir??" fragt und das soll nicht nur ein Wort sein - sondern acht. Da können schon mal ein paar Minuten der Ahnungslosigkeit verstreichen, bis man begreift: Der Mensch wollte fragen, ob ich erkenne, was er mir sagen möchte. "tu vois ce-que je veux te dire?"

Doch ich habe gute Hoffnung, was meine Konversation in einem Jahr angeht.
Meine Güte: Ich habe in Berlin manchmal die Erasmus-Studenten aus Italien und Spanien beobachtet und erlebt. Manche konnten nach einem Jahr radebrechend deutsch, manche verständigten sich sogar nur mit rudimentären Kenntnissen in Englisch. Der Gesichtsausdruck, wenn so ein Fremdling sich freiwillig in Vorlesungen mit deutschen Informationen zuhageln lässt, ist schwer zu beschreiben. Er strahlt das Schwanken aus zwischen engagiertem Mitmachfieber und verzweifeltem Unverständnis. Er will sagen: Was bitte sollen diese komischen Laute jetzt bedeuten. Dieser Gesichtsausdruck ist gleichzeitig Bewunderung und Neid, Resignation und Hoffnung. Die Person hinter diesem Gesicht fragt sich, ob das wirklich die richtige Entscheidung war, ob dieser Stoff etwa auch im Examen abgefragt wird und ob man als Erasmusstudent eine Art Welpenschutz genießt. Und dieses Gesicht lächelt mild und hofft inständig, jetzt bloß nicht vom Prof gefragt zu werden. Ich möchte mich in den Vorlesungen, glaube ich, nicht selbst beobachten.

Dienstag, 4. Oktober 2011

Bei lebendigem Leibe


Neulich bin ich an einem Restaurant vorbei gegangen, in dem es Austern gab. Die Leute saßen an schicken Tischen auf dem schmalen Bürgersteig mit weißen Tischtüchern und Silberbesteck. Die eleganten Kellner brachten aufgeständerte, große Schalen (ich kenne leider den Fachbegriff nicht) mit einem Berg Crash-Eis gefüllt. Und in den Eis-Berg waren Austern gebettet. Diese Bürgersteig-Szene mutete ein wenig komisch an, denn die Gäste des Restaurants wollten sich offensichtlich die kulinarische Frische auf der Zunge zergehen lassen. Und ich kann mir dieses Ambiente ganz gut auf der Terrasse eines Strandrestaurants der Côte d’Azur vorstellen. Doch an den Tischen vorbei drängelten sich die Passanten und rissen fast die Tischdecke mit, es klingelten die Fahrräder, es gab viele Bettler. Und keine zwei Meter weiter zwängte sich der Pariser Verkehr mit all seinen Bussen, LKW , Müllautos, dutzenden Motorrollern und hunderten Autos den Boulevard entlang. Doch die Genießer an den restlos besetzten Tischen stocherten und schlürften kontinuierlich und verzogen dabei keine Miene. Ich will mich nicht, wie bereits mehrfach ausgeführt, über die hiesige Enge echauffieren. Ich kann jedoch auch nicht verstehen, was an Austern so toll sein soll. Austern essen würde für mich nicht infrage kommen, war ich der Ansicht.

Aber ich habe es jetzt schon mehrfach hier erlebt, dass ich Dinge komisch finde und mir schwöre, dass ich dies bestimmt nicht tun würde. Wenig später bin ich ein Teil davon. Wie ein Quecksilbertropfen, der mit einer größeren Menge Quecksilber verschmilzt.
Zum Beispiel wollte ich nie den Trend mitmachen und große Kopfhörer auf der Straße tragen. Kleine Ohrstöpsel tun es ja auch und warum überhaupt Kopfhörer. Ich will ja schließlich die Sprache der Menschen hören, um französisch zu lernen und mich nicht von meiner Umwelt abschotten. Das Ding in meinem Viertel ist, dass ich nicht mal weiß, welche Sprache meine Nachbarn sprechen. Ich habe mal einen Senegalesen in einem Kaffee gefragt, wie viele verschiedene Nationalitäten es wohl auf der Marktstraße gebe. Ich kann nicht genau sagen, welches Afrikanische Land er bei seiner Aufzählung ausgelassen hat. Auf jeden Fall hat das Sprachargument contra Kopfhörer ausgedient. Jetzt habe ich welche und laufe auch leicht kopfnickend herum.

Auch die Austern habe ich zuerst abgelehnt. Doch vergangene Woche habe ich meine Ex-Mitbewohnerin Louiza in eine schicke Brasserie ausgeführt und auch so einen Eisberg mit Schalentieren drauf bestellt. Ich werkelte unbeholfen mit der kleinen Gabel in der ersten Austern-Schale herum um die weiße Muskelmasse von dem harten Panzer zu lösen. Louiza gab die Anweisungen. Ganz schön hartnäckig, das kleine Biest. Es war ein bisschen Geschick erforderlich aber es hat Spaß gemacht. Ein bisschen Salz und Zitrone und schwupp in den Mund.  Es schmeckte frisch und ein bisschen so, als wenn man im Sommer zum ersten mal ins Meer springt. Mit Brot und Zwiebelsoße war es sogar einigermaßen sättigend. Außerdem hatte es etwas Rituelles. So wie das Gefühl, das man bei Fondue oder Raclette erlebt. Man sitzt und plaudert und beschäftigt sich mit seinem Essen, bevor man es konsumiert. Das ist so schön gesellig. 
Als ich die zehnte und letzte Auster aß, hatte ich den Dreh raus: Gabel leicht geneigt an den Muskelansatz, etwa 180 Grad im Uhrzeigersinn gedreht und die Auster ist schlürfbereit. Ein Gourmand war ich jetzt, ein richtiger Austern-Esser. Auf dem Teller lagen zehn leere Austernschalen, deren Perlmut wunderschön im gedämmten Licht des Restaurants glänzte. Ich tupfte mit der Stoffserviette den Mund ab und fühlte mich ein bisschen mehr angekommen in dieser Stadt! 

Noch am Abend habe ich mit einer Studienkollegin aus Deutschland gechattet und ihr weltmännisch von meiner neuen Erfahrung geschrieben. Ihr Kommentar: "Du weißt schon, dass die Dinger noch leben, wenn man sie isst?!"
Es gab eine lange Pause.
"Hallo? Bist Du noch da?" schrieb sie.
Ich kann nicht mehr sagen, welches Gefühl nach Erhalt dieser Information stärker war. Der Ekel oder die moralische Schande, soeben zehn lebendige Lebewesen verspeist zu haben.

Ich habe noch nie Lebendiges gegessen. Bis auf ein paar Insekten beim Motorrad fahren, aber das zählt nicht. Ich konnte nicht verhindern, mir das Abendessen aus der Perspektive einer Auster vorzustellen. Da wird man erst in einer Silberschüssel auf einem Haufen aus Eis drapiert, um dann später aus seiner Behausung gerissen zu werden und zwischen den Backenzähnen eines Landsäugers zu enden. 
Leider können sich Austern nicht (oder nur kaum) bewegen und auch nicht artikulieren. Ich habe im Internet gelesen, dass ihr stärkster Muskel fast die Hälfte des Körpergewichts ausmacht, delikaterweise Schließmuskel genannt wird und ausschließlich zum Zuhalten der Schale dient. Ansonsten war die Natur sehr knauserig in punkto Körperfunktionen bei Austern: Kein Bein zum wegrennen oder weghüpfen. Nicht mal ein Finger zum protestieren. Sonst hätte ich Nichtsahnender doch inne gehalten. Ich habe leider nicht herausfinden können, ob die Tiere über Augen verfügen. Falls doch, musste zwar die letzte Auster aufgrund meiner frisch gewonnenen Gabelkenntnisse physisch am wenigsten leiden. Jedoch hat sie neun Mal mit angesehen, wie es ihren Kolleginnen erging, bevor sie selbst in meinem Rachen endete. Schrecklich.

Samstag, 24. September 2011

Von wollüstigen Erasmusstudenten und dicken Handtaschenglotzern


Gestern war ich auf der ersten Erasmus-Party meines Lebens. Bis 24 Uhr, so wurde versprochen, sei der Eintritt frei. Danach kostet es 15 Euro. Komisch, dachte ich. Niemand wird doch so beschränkt sein, und seine Unpünktlichkeit mit 15 Euro bezahlen. 
Die Truppe der Malaquais-Hochschule traf sich 21.30 Uhr vor dem großen Bahnhof unweit vom Club. Alle hatten etwas zu trinken mitgebracht. Außer mir. Doch ich profitierte von den herumgehenden Flaschen diverser unbekannter Inhalte. Ich war schnell angeheitert. Mich machte aber stutzig, dass sich niemand anstellte. Auf meine Nachfrage reichten meine Architekten-Kollegen aber lediglich die nächste Flasche weiter und prosteten mir in den unterschiedlichen Sprachen zu. Der Platz um uns herum füllte sich langsam mit Menschen.
Schlag halb zwölf öffnete die Tür des Clubs, von einem Moment auf den anderen standen diese vier-fünfhundert Leute plötzlich in einer Schlange, die sich wie eine Ameisenstraße über den großen Bahnhofsvorplatz zog. Daher weht also der Wind. Die großzügige Willkommensgeste des Clubbetreibers für arme Studenten entpuppte sich als gemeines Spiel mit der Angst um 15 Euro plus oder minus. 

Ich stand mittendrin in der hin- und herwogenden Schlange. An der Spitze domoptierten glatzköpfige, muskulöse, dunkelhäutige Männer in schwarzen Lederjacken und schauten wie Gangster drein. Vor uns standen noch ungefähr 50 Leute. Ich drehte mich zu der großen Bahnhofsuhr um, die noch anderthalb Minuten bis Mitternacht anzeigte. Alle hatten besorgte Gesichter und die 15-Euro im Kopf, die genau die Schmerzgrenze sind, bei der man sich zähneknirschend überlegt. "Bezahle ich oder gehe ich?"

Es gab bis zur Tanzfläche noch drei Schleusen, an denen große Wärter standen, die über Jubel oder  Enttäuschung, über Rein oder Raus entscheiden durften. Den besten Job hatte wahrscheinlich der kleine dicke Typ kurz hinter der Garderobe, der allen Frauen in der Handtasche rumwühlen durfte. Er sah aus, als wenn er Spaß dabei hatte. Diese Situation hatte einen besonders absurden, exhibitionistischen Charakter. Denn es ging die Treppe hinunter und alle, die dahinter warteten, konnten gleich mit in die Handtaschen schauen. Ich weiß nicht, ob ich das als Frau wollen würde.

Und dann waren wir drin. Gratis zum Glück. Der Saal brummte.
Da waren sie, die Massen hormongesteuerter, junger, wilder Kosmopoliten. Die gesamte Austauschstudentenschaft der französischen Hauptstadt in einer Großraumdisko.
Ich erkämpfte mir mein erstes Bier an der Bar. Wow, eine Dose und tatsächlich 0,33 Liter Inhalt für nur fünf Euro. Naja, es hätte auch teurer sein können. Nichts im Vergleich zu den zwei kleinen Becks die ich mal während eines Urlaubs in Florenz bestellt hatte. Ich hatte zehn Euro gegeben und war darauf gespannt, was ich zurück bekomme. "No-No, Sixteen please", meinte der Barmann damals. 

Ich komme jetzt nicht mehr darum herum, hinzuzufügen, dass ich zwar ein regulärer Student bin, jedoch auffällig spät angefangen habe, zu studieren. Ich bin mit 39 Jahren in der Berliner Uni nicht der Älteste meines Semesters. In Frankreich jedoch ist es absolut undenkbar, wenn nicht sogar verpönt, es jenseits der 25 zu wagen, womöglich noch Mal etwas anderes machen zu wollen. Die Verkehrsgesellschaft zum Beispiel, die hier S- und U-Bahn betreibt,  weigerte sich, mir eine Vergünstigung zu geben, weil ich schon älter als 26 Jahre bin. Deshalb bin ich auch mit gemischten Gefühlen in dieses Austauschjahr gefahren. Und ich habe schon die verwunderten Gesichter zwanzigjähriger Französinnen vorausgesehen, die sich tuschelnd darüber lustig machen, ob ich der neue Proff bin.

Das Gute an meinem Alter: Der gestrige Abend bescherte mir auf sonderbare Weise einen Rückblick in die Vergangenheit. Ich stellte fest, dass sich kaum etwas verändert hat im Vergleich zu meiner Diskozeit. Was mir jedoch besonders auffiel, waren die Tanz-Podeste. Die Menge drängelte sich darum, einmal oben zu tanzen. Jeder, der da oben Platz fand, war plötzlich Discostar. Und das heißt nicht einfach nur tanzen. Nein, das bedeutet, man muss (als Frau) wollüstig die Hüften wiegen und reiben, die Lippen so schmollig wie möglich schürzen und die Augen auf und niederschlagen als wenn es Überzeugungsarbeit zu leisten gilt. Und als Mann, nun ja, das war einfacher und auch schon früher so: Einfach nur so cool wie möglich tanzen und dabei die Lage checken.

Zwei wichtige Fragen stellte ich mir. Erstens: Ob ich als 20jähriger auch solch ein Paarungsveralten an den Tag gelegt habe. Und zweitens: Wie man nach solch einer Musik nur tanzen kann. Ein Bier später war ich mitten drin und tanzte mit. Keine Ahnung, wie die Bands hießen. Es war Musik, bei der ich zuhause genervt das Radio ausdrehe. Aber ich musste mir das einfach geben. Unsere kleine Gruppe von Architekturstudenten der Malaquais hatte viel Spaß. Bis halb fünf. Auf eine Tanzeinlage auf einem der Podeste habe ich verzichtet. Obwohl ich darum gebeten wurde. Beim nächsten Mal vielleicht.  

Sonntag, 18. September 2011

Je m´en fous - mir doch egal




In Paris kommt man nicht umhin, über die Gelassenheit der Leute zu sinieren. Die Übersetzungsseite im Internet www.leo.org kennt im Französischen vier verschiedene Begriffe für das Wort Gelassenheit. Eins davon heißt flegme und ein anderes impassibilité, was auch mit dem Wort Gleichmütigkeit verlinkt ist. Wenn ich die Menschen auf den Straßen beobachte, wenn sie mir entgegen kommen und keinen Schritt ausweichen, wenn sie vor mir auf dem Bürgersteig laufen (der viel schmaler ist als in Deutschland) oder die Rolltreppe blockieren, wenn man aus der U-Bahn will und drei Mal laut Pardon sagen muss, dann ... ja dann frage ich mich, wie es diese Stadt schafft, ohne eine Explosion oder wenigstens ein kleines Amokläufchen den Tag passieren zu lassen. Nicht, dass ich mir das wünschen würde. Ich bin weit davon entfernt. Aber während in Berlin die meisten Leute gleich hyperventilierend aus dem Anzug springen, wenn jemand im Weg steht, wird darüber hier nicht mal ein Gedanke verschwendet. Seelenruhig schlendern meine Mitmenschen auf dem Radweg. Sie sehen mich und schlendern und schlendern und schlendern. Mit einer Fahrradklingel kann man hier niemanden beeindrucken.  

Heute bin ich zum Place de la Republique gefahren, um mich mit Freunden zu treffen. Ich war schon etwas gestresst, weil ich spät dran war. Auf dem Platz startete grade die fête de l´humanité. Ich kam hinter einer 20-köpfigen Trommlergruppe zum Stehen, deren Mitglieder sich entschieden hatten, sich an der engsten Stelle des Bürgersteiges, nämlich dort, wo ein Kiosk war, über ihr Repertoire zu beratschlagen. Trommeln also runter und erst mal quatschen. Der etwa anderthalb Meter breite Gehweg zwischen Kiosk und Hauswand hatte jetzt einen Korken. Ich dachte wirklich, es geht gleich weiter. Aber dem war nicht so. Die anderen Passanten, die sich hinter mir schnell aufstauten, wichen schon auf die stark befahrene dreispurige Straße aus, was wirklich gefährlich aussah, denn vorne am Bordstein kamen die Leute kaum zum stoppen, weil von hinten die Menge nachdrückte.  Doch es gab niemanden, der auch nur einen Ansatz von Erregung zeigte. Die Leute steuerten bereitwillig wie eine Horde Lemminge in den sicheren Tod. Doch die Katastrophe blieb aus und niemand kam zu schaden. Die Autofahrer bremsten gelassen, die Passanten schlängelten sich durch die stehen gebliebenen Autos. Niemand hupte, niemand schimpfte, niemand sagte Danke. Alles blieb in einem sonderbaren Fluss. Ja, Fluss ist das richtige Wort. Denn wie Wasser, dass sich bei einer Verstopfung einen anderen Weg sucht, floss auch die Menschenmenge an der anderen Seite des Kiosks vorbei. Ich war der einzige Tropfen,  der sich "Pardon, Pardon, Pardon" durch die Trommlergruppe drängelte. Wenigstens die machten dann große Augen. Das gefiel mir. Das war vertraut.

Apropos fließen. Was ich hier noch überhaupt nicht verstehe, ist der sorglose Umgang mit dem Wasser. Als ich groß geworden bin, galt es als Todsünde, den Wasserhahn beim Zähneputzen offen zu lassen. Undenkbar tagsüber im Sommer den Rasen zu sprengen, weil das meiste dann verdunstet. Wasser ist kostbares Gut, hieß es, Lebenselixier. Jeder Tropfen zählt. Ich habe aus einem Schulbuch noch das Bild von afrikanischen Frauen vor meinen Augen, die schwere Krüge auf dem Kopf balancierend halbe Tagesmärsche zurücklegen, um Wasser zu ihren Familien zu bringen.
Hier in Paris muss ich diese Erinnerungen und anerzogenen Moralvorstellungen noch einmal komplett überdenken.
In meinem Viertel leben schätzungsweise 85 Prozent afrikanischstämmige Menschen und das Wasser fließt in Strömen. Es kommt aus Hydranten, die im Bordstein eingebaut sind. Mit einem großen Vierkantschlüssel kann man die Schleusen öffnen. Das Viertel ist ein bisschen hügelig und deswegen liegen diese Hydranten an den höher gelegenen Straßenecken. Man muss hinzufügen, dass die Leute hier nicht besonders zimperlich mit ihrem Müll umgehen. Ich beobachte oft, dass drei, vier Meter zum nächsten Papierkorb für viele Leute sehr beschwerlich sind. Dabei gibt es wirklich viele öffentliche Mülleimer. Doch wenn Dose leer -  dann Signal von Kleinhirn an Hand: Peng - auf die Straße. Pfand gibt’s hier noch nicht. Und die Müllabfuhr kommt jeden Tag.
In einer Nachbarstraße ist jeden Tag Markt. So viel geballte Sorglosigkeit habe ich noch nicht erlebt. Ich will hier nicht meckern. Ich weiß bloß nicht, zu welchen Anteilen ich es bewundern oder verurteilen soll. Abgesehen davon, dass niemand bereit ist, einen Zentimeter für den anderen zu weichen, dies aber auch niemanden wirklich kümmert, sieht die Straße am Nachmittag aus, als wären drei Müllautos explodiert.
Und was passiert dann? Die Hydranten werden aufgedreht. Und das Wasser fließt fröhlich plätschernd stundenlang den Rinnstein runter. Tüten, Kartons, Essensreste, Styropor gehen auf eine vergnügliche Reise immer bergab. Am Ende wird alles, was in den Gullygittern hängen bleibt, eingesammelt. Der Rest ist unsichtbar geworden. Ich habe das anfangs für illegal gehalten aber später erfahren, dass das von der Stadtreinigung so praktiziert wird.  

Wenn ich durch die Straßen gehe, die Sonne schillert in der Brühe, dann frage ich mich manchmal, ob ich der Einzige bin, der sich Sorgen um diesen Planeten macht. Die meisten Menschen sehen aus, als wenn sie das alles nichts angeht. Aber ich bin schließlich nicht hier, um die komplette Nachbarschaft zu bekehren. Ich will ja nicht enden wie der Typ aus dem Film Muxmäuschenstill. Im Endeffekt bin ich mir nicht sicher, wie viel von dieser Pariser Gelassenheit ich mir annehmen soll. Im Straßenverkehr werde ich wohl freiwillig das Pariser Verhalten so schnell wie möglich adaptieren.

Und was die Hydranten angeht: Ich werde kleine Wassermühlen mit Dynamos in den Rinnsteinen installieren, um die Wasserkraft zu nutzen, die jeden Tag von den Sturzbächen erzeugt wird. Den Strom verkaufe ich dann der Stadt und von dem Geld bezahle ich eine Kompanie Straßenfeger. Kann das mal jemand durchrechnen?  

Sonntag, 11. September 2011

Der Bulimie-Kater


Das Leben ist sehr hart in Paris. Weil es geregnet hat, habe ich heute fast den ganzen Tag auf dem Bett liegend damit zugebracht, den Kater zu streicheln. Meine Mitbewohnerin Maja ist in ihrer schwedischen Heimat und Tigres ist so liebebedürftig, dass ich nicht mal in Ruhe einen Tee trinken kann. Ständig nötigt er mich zum Streicheln, stößt mich mit seinem Kopf an, am liebsten wenn ich gerade die Tasse ansetzen will, so dass ich Gefahr laufe, mich zu verbrühen. Oder er streicht mit seinem Körper überall entlang, so dass seine Haare in der Luft rumschweben. Auch nicht so lecker, wenn man Tee trinken will. Manchmal legt er sich auch auf mich, wenn ich lese oder eine DVD schaue. Und Tigres ist wohlbeleibt. Da bleibt mir fast die Luft weg, wenn er auf meiner Brust rumtrampelt, um es sich bequem zu machen. Irgendwann hat er es dann geschafft und seinen schnurrenden Körper so platziert, dass sich unsere Nasen fast berühren. Wir schauen uns dann ganz tief in die Augen und überlegen wahrscheinlich beide, wer jetzt eigentlich wen hypnotisiert. Mit großer Vorliebe, tippt er mir dann mit seiner Pfote auf die Lippen, als wenn er mir zu verstehen geben will, dass ich jetzt nicht die schöne Stimmung zerstören darf.
Ich glaube er ist so anhänglich, weil es ihm derzeit nicht so gut geht. Irgendwie behält er in letzter Zeit sein Futter nicht bei sich. Dabei fällt er mit gesundem Appetit über das Essen her. Und das ist nicht irgendein Billigfutter. Maja kauft nur das Beste für ihre Katzen. Doch genauso schnell wie er frisst, so schnell höre ich Tigres dann aus irgendeiner Ecke der Wohnung würgen. Vielleicht leidet er unter Bulimie. Eine unterbewusste Protesthaltung. Das würde auch erklären, warum er sich immer an den schwierigsten Stellen übergibt. Nicht, dass Monsieur mal auf eine abwischbare Stelle, wie Linoleum, Dielen oder Fliesen kotzt. Nein, mit Vorliebe speit er auf den Kokosfaser-Teppich im Flur. Neulich hat er in die Verteilersteckdose und auf die Kabel unter Majas Schreibtisch gebrochen. Es kam zwar nicht zu einem Kurzschluss. Aber Maja hat sehr viel Zeit mit dem Reinigen verbracht. Vielleicht sollte ich das Thema jetzt nicht weiter ausfabulieren.
Nur so viel: Gestern habe ich Tigres ein bisschen Thunfisch gegeben: Es ist drin geblieben. 


Demnächst gibt es Geschichten mit mehr Inhalt. Versprochen. Denn ab morgen fängt mein Sprachkurs an. Ich bin gespannt auf die Zeit, die kommt, muss aber auch gestehen, dass ich mich mit dem NINI-Leben (NIcht arbeiten-NIcht studieren) ganz gut angefreundet habe. 

Sonntag, 4. September 2011

Majas Utensilien


Wenn es etwas nicht geben sollte in Paris, dann ist das Platz. Die Wohnungen sind meist so eng bemessen, dass gerade mal die wichtigsten Funktionen klappen. Ich als Single komme schon klar damit, fühle mich ein wenig beengt, wenn ich den Kopf einziehen muss, um aufs Klo zu gehen. Oder wenn ich drei Schritte zurück weichen muss, weil mir meine Mitbewohnerin in der Küche entgegen kommt. Wenn ich daran denke, dass eine Familie mit mehreren Kindern und Haustieren in so einer engen Behausung klar kommen soll, dann kann ich mir schon vorstellen, dass dies den Hausfrieden ins Wanken bringen könnte. Erst jetzt weiß ich zu schätzen, wie gigantisch groß eigentlich meine Wohnung in Berlin ist. Meine Güte. Mein WG-Zimmer hat dekadente 22 Quadratmeter. Eigentlich ökologischer Wahnsinn, wenn man sich vorstellt, dass man das im Winter alles beheizen muss. Ich sollte dort alles noch Mal unterteilen und an ausländische Studenten vermieten.
Aber zurück nach Paris. Vorteile hat diese Enge natürlich auch. Ich kann zum Beispiel in der Küche sitzen und die Zubereitung einer Speise erledigen, ohne mich großartig zu bewegen. Ich erreiche den Kühlschrank, das Besteckfach, den Mülleimer und, wenn ich will, auch den Herd buchstäblich im Handumdrehen. Unsere Küche und meine Mitbewohnerin sind dabei noch mal ein Spezialfall. Maja hat so viele Küchenutensilien, dass man ein Gerät beiseite räumen muss, um ein anderes zu benutzen. Den Toaster habe ich noch gar nicht entdeckt. Dafür aber drei Mixer mit insgesamt zwei Dutzend verschiedenen Aufsätzen. Romantisch gesehen hat alles etwas von einem Camping-Urlaub. Da ist der dreiflammige Propankocher, die wasserabweisende Tischdecke, alles ist ein bisschen krempelig und: Man sitzt wie in einem Camping-Wohnwagen seinem Gegenüber fast auf dem Schoß.
Was bei diesem knapp bemessenen Raum keine vorteilhafte Eigenschaft ist: Meine Mitbewohnerin hat einen ausgeprägten Drang zum Sammeln von Dingen. Ein ganzes von unseren drei Zimmern, die jeweils ca. acht Quadratmeter groß sind, ist voll mit kunterbuntem Zeugs. Ich war noch nicht wirklich drin. Aber wenn Maja dieses Zimmer betritt, dann stakst sie wie ein Storch durch den schmalen Pfad, der vom Fußboden übrig geblieben ist. Ich sehe sie dann von der Tür aus inmitten dieses Dschungels aus Kartons, Tüten, Schachteln, Kleidern, Plastikboxen, Geräten, Werkzeugen, Wäsche etc. stehen und sie erklärt mir aufs Neue, dass sie unbedingt aufräumen müsse. Gestern war sie mit einer ihrer beiden Katzen beim Arzt. Arkadia wollte in diesem Zimmer einen Turm aus Schachtel und Stapeln beklettern. Es gab einen großen Rumms. Seitdem bewegt sich Arkadia sehr vorsichtig und humpelt ein wenig. Im Mai will Maja umziehen. Sie sucht einen Platz, wo sie ihr Theaterprojekt realisieren kann. Sie hat schon im Süden von Paris eine Immobilie gefunden, die sie zusammen mit einer Freundin mieten möchte. Ihr Ziel: Wohnung, Theater, Lager unter einem Dach. Ich werde dann für meine verbleibenden drei Monate mit umziehen. Ich habe ein wenig Sorge, dass sich dann Majas Utensilien vermehren werden. Wer den letzten Harry Potter gesehen hat und an die Szene in der Schatzkammer denkt, weiß, wovon ich spreche.

Freitag, 2. September 2011

Und heute morgen besuchte mich Arkadia.

umzug

Als ich heute morgen aufgewacht bin, brauchte ich ein paar Sekunden, um zu erkennen, dass ich gestern umgezogen bin. Durch meine schmalen Augen sah ich vor mir viele freizügig bekleidete Frauen. Bin ich tot?, dachte ich. Manche der Frauen waren da mit großen schwarzen Hunden, andere mit zerrissenen Hemden, mit ölverschmiertem Leib, eine sogar gefesselt und geknebelt. Die ganze Wand ist voll mit diesen Fotos.
Meine Vormieterin, die gestern hier das Feld geräumt hat, hat anscheinend eine Vorliebe für Hochglanz-Aufnahmen dieser Art, denn fast das komplette Zimmer ist tapeziert damit. 
Eine andere ihrer Vorlieben scheint das Sammeln von bunten Kartons und Hochglanz-Papiertüten aller Art zu sein. Und obwohl sie gestern das Auto eines Bekannten voll gequetscht hat mit ihren Sachen, stehen noch immer unzählige schicke und weniger schicke Kartons und Tüten im Flur und versperren den Weg zur Küche und zum Klo. Zugegeben: Dazu gehört nicht viel. Denn diese Wohnung ist anscheinend für Hobbits entworfen worden. Mein Zimmer, wie ich gestern ausgemessen habe, hat ganze 8,17 Quadratmeter. Das ist meines Wissens weniger als einem Gefängnis-Insassen nach den Maßstäben der Genfer Konvention zusteht. Aber ich fühle mich gut.

Da Ewa, meine polnischstämmige Vormieterin nur sehr langsam ausgezogen ist, verbrachte ich meinen einzigen Koffer in einer Ecke der Wohnung und suchte einen Imbiss auf. Tunesische Platte klang verlockend, stellte sich aber dann doch als halbherziger Salat heraus. Es ist eine ausgesprochene Immigrantengegend. Vielleicht sollte ich mal Thilo Sarrazin einladen. Dann kann er sein nächstes Buch schreiben.  Ich bin ja schon einmal durch diese Straßen geschlendert und mir war zugegebenermaßen etwas mulmig zumute. Maja, meine neue Mitbewohnerin hatte mir schon erzählt, dass sie nachts auf der Straße ihres Iphones beraubt wurde und auch andere Bekannte bekamen größere Augen, als ich ihnen erzählte, dass ich ins 18. Arrondissement Nähe Chateau Rouge ziehe.

Aber es ist eine Gelegenheit. Ich wohne tatsächlich in einem  Mansardenzimmer im sechsten Stock ohne Fahrstuhl. Ich schaue über eine paar Blech-Dächer, habe den ganzen Tag Sonne, die durch das mannshohe Fenster strahlt und gestern habe ich die leuchtende Spitze des Eifelturms entdeckt. Nach meinen ersten Eindrücken in diesem Viertel hatte ich noch Zweifel, ob ich das Richtige tue. Da gab es so viele obskure Erlebnisse.  Da war der Typ an der Straßenecke, der mir das Wort Ecstasy zuraunte. Oder die vielen Obdachlosen, über deren Matratzen man auf den engen Bürgersteigen große Schritte machen muss. Oder die Szene auf der Straße, die ich erste bemerkte, als ich dorthin sah, wo schon dutzende Augenpaare hinblickten. Ein sehr muskulöser Mann drückte einen anderen schmächtigeren Mann an die Fassade eines Hauses, durchsuchte ihn und las ihm dabei aufs aggressivste die Leviten.

Aber ich hatte die Wahl: Diese neuen Erfahrungen in einem kleinen Zimmer unterm Dach in Paris. Oder weiter bei Louiza leben, meiner lieben, vorherigen Mitbewohnerin im Rentenalter. In einem ruhigeren Bezirk im Zimmer mit Fenster zu einem beschaulichen Hof. Leider hatte dieses Zimmer insgesamt drei Türen. Eine zum Wohnzimmer, eine zum Bad und eine zu Louizas Schlafzimmer. Ist schon komisch, wenn man im Halbschlaf mitbekommt, dass da etwas oder jemand an einem vorüber schleicht. Im Notfall wäre das auch gegangen für die kommenden zehn Monate. Aber nun habe ich mein eigenes Acht-Quadratmeter-Reich.