Freitag, 2. September 2011

umzug

Als ich heute morgen aufgewacht bin, brauchte ich ein paar Sekunden, um zu erkennen, dass ich gestern umgezogen bin. Durch meine schmalen Augen sah ich vor mir viele freizügig bekleidete Frauen. Bin ich tot?, dachte ich. Manche der Frauen waren da mit großen schwarzen Hunden, andere mit zerrissenen Hemden, mit ölverschmiertem Leib, eine sogar gefesselt und geknebelt. Die ganze Wand ist voll mit diesen Fotos.
Meine Vormieterin, die gestern hier das Feld geräumt hat, hat anscheinend eine Vorliebe für Hochglanz-Aufnahmen dieser Art, denn fast das komplette Zimmer ist tapeziert damit. 
Eine andere ihrer Vorlieben scheint das Sammeln von bunten Kartons und Hochglanz-Papiertüten aller Art zu sein. Und obwohl sie gestern das Auto eines Bekannten voll gequetscht hat mit ihren Sachen, stehen noch immer unzählige schicke und weniger schicke Kartons und Tüten im Flur und versperren den Weg zur Küche und zum Klo. Zugegeben: Dazu gehört nicht viel. Denn diese Wohnung ist anscheinend für Hobbits entworfen worden. Mein Zimmer, wie ich gestern ausgemessen habe, hat ganze 8,17 Quadratmeter. Das ist meines Wissens weniger als einem Gefängnis-Insassen nach den Maßstäben der Genfer Konvention zusteht. Aber ich fühle mich gut.

Da Ewa, meine polnischstämmige Vormieterin nur sehr langsam ausgezogen ist, verbrachte ich meinen einzigen Koffer in einer Ecke der Wohnung und suchte einen Imbiss auf. Tunesische Platte klang verlockend, stellte sich aber dann doch als halbherziger Salat heraus. Es ist eine ausgesprochene Immigrantengegend. Vielleicht sollte ich mal Thilo Sarrazin einladen. Dann kann er sein nächstes Buch schreiben.  Ich bin ja schon einmal durch diese Straßen geschlendert und mir war zugegebenermaßen etwas mulmig zumute. Maja, meine neue Mitbewohnerin hatte mir schon erzählt, dass sie nachts auf der Straße ihres Iphones beraubt wurde und auch andere Bekannte bekamen größere Augen, als ich ihnen erzählte, dass ich ins 18. Arrondissement Nähe Chateau Rouge ziehe.

Aber es ist eine Gelegenheit. Ich wohne tatsächlich in einem  Mansardenzimmer im sechsten Stock ohne Fahrstuhl. Ich schaue über eine paar Blech-Dächer, habe den ganzen Tag Sonne, die durch das mannshohe Fenster strahlt und gestern habe ich die leuchtende Spitze des Eifelturms entdeckt. Nach meinen ersten Eindrücken in diesem Viertel hatte ich noch Zweifel, ob ich das Richtige tue. Da gab es so viele obskure Erlebnisse.  Da war der Typ an der Straßenecke, der mir das Wort Ecstasy zuraunte. Oder die vielen Obdachlosen, über deren Matratzen man auf den engen Bürgersteigen große Schritte machen muss. Oder die Szene auf der Straße, die ich erste bemerkte, als ich dorthin sah, wo schon dutzende Augenpaare hinblickten. Ein sehr muskulöser Mann drückte einen anderen schmächtigeren Mann an die Fassade eines Hauses, durchsuchte ihn und las ihm dabei aufs aggressivste die Leviten.

Aber ich hatte die Wahl: Diese neuen Erfahrungen in einem kleinen Zimmer unterm Dach in Paris. Oder weiter bei Louiza leben, meiner lieben, vorherigen Mitbewohnerin im Rentenalter. In einem ruhigeren Bezirk im Zimmer mit Fenster zu einem beschaulichen Hof. Leider hatte dieses Zimmer insgesamt drei Türen. Eine zum Wohnzimmer, eine zum Bad und eine zu Louizas Schlafzimmer. Ist schon komisch, wenn man im Halbschlaf mitbekommt, dass da etwas oder jemand an einem vorüber schleicht. Im Notfall wäre das auch gegangen für die kommenden zehn Monate. Aber nun habe ich mein eigenes Acht-Quadratmeter-Reich.    

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen