Sonntag, 30. Oktober 2011

Kleinere Detonationen


Ich hatte mich ja schon einmal an dieser Stelle gewundert, warum die Leute aufgrund der Enge in Paris nicht ausrasten sondern immer, naja sagen wir fast immer, höflich sind. Warum sie seelenruhig wie indische Kühe bei Rot über die Straße schlendern und die Autos nicht hupen. Louiza hat mir neulich erzählt, dass sie an einer kleinen Gruppe eifrig erzählender Frauen vorbei wollte. Bürgersteig eng. Straße stark befahren. Als sie darum bat, dass man Platz machen möge, erwiderte eine der Frauen: "Pardon Madame, wir haben unser Gespräch noch nicht beendet." 

Allmählich verstehe ich, dass die einzig wahre Antwort und die wirklich effizienteste Waffe gegen den Stress eine gehörige Portion Phlegma ist. Während auf der Frankfurter Allee in Berlin der Schmalspur-Schumi auf die Hupe boxt, weil in hundert Meter Entfernung eine alte Frau mit Krückstock nicht schnell genug über die Straße humpelt, wird hier in Paris mindestens zwei Ampelphasen gewartet, bis der Baguette-Lieferant in vorderster Reihe aus dem Tagtraum gerissen wird.  

Dennoch: So ganz ohne Zwischenfälle läuft der Pariser Alltag auch nicht ab. Ich glaube, der angestaute Stress entlädt sich in kleineren Detonationen. Diese Woche wurde ich Zeuge einer solchen Entladung an der Supermarktkasse. Ein Mann, der nur ein Thunfischsandwich in der Hand hielt, fragte mich, ob ich ihn vorlassen würde. Ich machte selbstverständlich Platz. Die Dame vor mir war nicht so großzügig sondern machte ihn sehr laut darauf aufmerksam, dass ein freundliches "Bitte" doch das Mindeste sei. Der Mann seinerseits war so erschrocken, dass er sich spontan dazu entschied, gleich komplett die Kasse zu wechseln. Er murmelte dabei etwas, was ich nicht verstand. Es muss etwas Unanständiges gewesen sein, denn es brachte die Frau vor mir dazu, nun ihre ganze Kraft in die Stimme zu legen, damit auch die Menschen am anderen Ende des Supermarktes erfahren können, was für ein übler und unfreundlicher Zeitgenosse hier einkauft. Von da an wechselten sich die beiden in den Beleidigungen ab. Er unterstellte ihr zunächst, sich zu prostituieren, woraufhin Sie unter anderem seine Mutter bezichtigte, ebenfalls ihren Körper feilzubieten. Das ging in ähnlicher Weise weiter und wurde immer heftiger. Hierbei sei erwähnt, dass es sich um zwei Bürger mit so genanntem Migrations-Hintergrund handelte. Das ist an sich nicht nennenswert, schon gar nicht von mir, weil ich ja selbst Ausländer bin. Aber in dieser Situation fand ich es komisch, weil sie sich unter anderem gegenseitig vorwarfen, nicht richtig französisch zu können. Die beiden wurden immer lauter und die anderen Kunden immer stiller. Selbst, als die Frau ihre Sachen einpackte und er immer noch (wegen ihr) zwei Kassen weiter wartete, ja sogar draußen auf der Straße gab’s verbale Haue. Er, den Mund voller Thunfischsandwich (kleine Stückchen davon flogen durch die Luft), und sie, mit ihrer Rolltasche, schon in einiger Entfernung die Faust in die Luft boxend. Beide wollten das letzte Wort haben, bis die Frau an der nächsten Ecke verschwand. Dann war alles wieder wie vorher.
Die Googlekamera war offensichtlich unauffälliger als meine.

Ein anderes Mal war ich mittendrin im Epizentrum. Ich habe einen Kaffee in der Marktstraße in meinem Viertel getrunken und das lebhafte Treiben beobachtet. Ich wollte das einfach mal festhalten, zog meine Kamera aus meinem Rucksack und drückte ab. Eine Frau, die auf einem Pappkarton bunte Tücher ausgebreitet hatte und sich gerade von ihrem Verkaufsgespräch abwandte, bekam das mit. 


Der Markt an sich hat im Prinzip schon einen enormen Geräuschpegel. Dennoch schaffte es diese Frau, mit nur mit ein paar Sätzen die Aufmerksamkeit der halben Straße auf sich und dann auf mich zu lenken. Offensichtlich mögen die Leute in dieser Straße nicht fotografiert werden. Die Frau gebärdete sich nämlich, als wenn sie mich gerade dabei ertappt hätte, ihr Kind zu entführen.
Wie ich schon ungefähr vermutet hatte, sind die Pappkarton-Stände mit den Dolce&Gabbana-Gürteln, mit den hochwertigen Uhren und Sonnenbrillen, und mit den DVDs der aktuellsten Kinofilme nicht hundertprozentig legal. Jedenfalls beschuldigte mich diese Frau, für die Polizei zu spitzeln. Das Wort Polizei hat eine ganz besondere Wirkung in dieser Straße. Die Blicke aller Umstehenden liefen sofort wie die Straßen am Arc de Triomphe auf mich zu. Ich fühlte mich an meinem kleinen Kaffeetisch ein wenig in der Klemme. Darum entschloss ich mich, so unschuldig wie möglich zu schauen, das Wort Tourist zu meiner Rechtfertigung anzuwenden und mich mehrmals zu entschuldigen.
Ich dachte später daran, warum ich es eigentlich war, der sich schuldig fühlen muss. Praktisch die ganze Straße betreibt illegale Geschäfte, jeder der Händler hat ein Auge auf seinen Stand und eins auf die Straße. Immer die Angst im Nacken, die Polizei könne kommen und die komplette Ware konfiszieren. Und ich, der einzige, der ganz legal dort ist, der vielleicht ein paar Bananen aber niemals eine Raubkopie kaufen würde, der nur ein Bild machen will, weil er die Fotografie als Hobby betreibt. Der läuft Gefahr, mit dem Riemen seiner Kamera aufgeknüpft zu werden. Auf meinem Grabstein würde stehen, dass ich nun für Google-Earth arbeiten könne.     
So weit ist es zum Glück nicht gekommen. Mein Unschuldsblick und meine unfreiwillige Gesichtsröte wirkten. Die Frau meinte zwar noch, dass alle Touristen foux, also blöd oder verrückt, seien. Aber die Situation entspannte sich zusehends. Von einer umfangreichen Fotoreportage über die Leute in der Marktstraße nehme ich vorerst Abstand.

Donnerstag, 20. Oktober 2011

tüvoaskschwötedir?

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Lieber Gott, lass mich Französisch verstehen. Und zwar viel und bald. Der Hauptgrund, warum ich hierher gekommen bin, war, endlich diese Sprache zu lernen. Ich mochte sie, glaube ich, schon immer. Schon als Kind, als mein älterer Bruder die Beatles Schallplatte mit dem Lied Michelle rauf und runter gehört hat. Oder als meine Eltern mir die Marseillaise beigebracht haben.  Damals waren es nur wohlklingende Laute, die ich auswendig nachplapperte, ohne mich wirklich für den Sinn zu interessieren. 
Und nun kann ich mich auch schon unterhalten. Mein Gesprächspartner muss zwar Geduld haben und mich mögen. Denn ich muss oft nachfragen und abgesehen von den fragenden Worten, setze ich (teilweise schon unabsichtlich) ein ratloses Gesicht auf, wenn etwas unklar ist. Wenn mir nur ein Wort im Satz fehlt, kann die ganze Info den Bach runter gehen. 
Manchmal frage ich auch nicht. Dann nicke ich zu den fremden Worten verständnisvoll und interessiert. Und wenn ich Glück habe, ist der Erzähler ignorant genug, um nicht ein gleichberechtigtes Gespräch zu erwarten, bei dem ich etwa auch mal was sagen will. Das ist dann der Zeitpunkt, ein neues Thema zu eröffnen. Zum Beispiel mit: Hast Du eigentlich schon Hausaufgaben gemacht? Aber wer will einem schon verübeln, wenn man nicht gleich die schwierige französische Buchstabensuppe auseinanderdefinieren kann.
Wenn jemand "tüvoaskschwötedir??" fragt und das soll nicht nur ein Wort sein - sondern acht. Da können schon mal ein paar Minuten der Ahnungslosigkeit verstreichen, bis man begreift: Der Mensch wollte fragen, ob ich erkenne, was er mir sagen möchte. "tu vois ce-que je veux te dire?"

Doch ich habe gute Hoffnung, was meine Konversation in einem Jahr angeht.
Meine Güte: Ich habe in Berlin manchmal die Erasmus-Studenten aus Italien und Spanien beobachtet und erlebt. Manche konnten nach einem Jahr radebrechend deutsch, manche verständigten sich sogar nur mit rudimentären Kenntnissen in Englisch. Der Gesichtsausdruck, wenn so ein Fremdling sich freiwillig in Vorlesungen mit deutschen Informationen zuhageln lässt, ist schwer zu beschreiben. Er strahlt das Schwanken aus zwischen engagiertem Mitmachfieber und verzweifeltem Unverständnis. Er will sagen: Was bitte sollen diese komischen Laute jetzt bedeuten. Dieser Gesichtsausdruck ist gleichzeitig Bewunderung und Neid, Resignation und Hoffnung. Die Person hinter diesem Gesicht fragt sich, ob das wirklich die richtige Entscheidung war, ob dieser Stoff etwa auch im Examen abgefragt wird und ob man als Erasmusstudent eine Art Welpenschutz genießt. Und dieses Gesicht lächelt mild und hofft inständig, jetzt bloß nicht vom Prof gefragt zu werden. Ich möchte mich in den Vorlesungen, glaube ich, nicht selbst beobachten.

Dienstag, 4. Oktober 2011

Bei lebendigem Leibe


Neulich bin ich an einem Restaurant vorbei gegangen, in dem es Austern gab. Die Leute saßen an schicken Tischen auf dem schmalen Bürgersteig mit weißen Tischtüchern und Silberbesteck. Die eleganten Kellner brachten aufgeständerte, große Schalen (ich kenne leider den Fachbegriff nicht) mit einem Berg Crash-Eis gefüllt. Und in den Eis-Berg waren Austern gebettet. Diese Bürgersteig-Szene mutete ein wenig komisch an, denn die Gäste des Restaurants wollten sich offensichtlich die kulinarische Frische auf der Zunge zergehen lassen. Und ich kann mir dieses Ambiente ganz gut auf der Terrasse eines Strandrestaurants der Côte d’Azur vorstellen. Doch an den Tischen vorbei drängelten sich die Passanten und rissen fast die Tischdecke mit, es klingelten die Fahrräder, es gab viele Bettler. Und keine zwei Meter weiter zwängte sich der Pariser Verkehr mit all seinen Bussen, LKW , Müllautos, dutzenden Motorrollern und hunderten Autos den Boulevard entlang. Doch die Genießer an den restlos besetzten Tischen stocherten und schlürften kontinuierlich und verzogen dabei keine Miene. Ich will mich nicht, wie bereits mehrfach ausgeführt, über die hiesige Enge echauffieren. Ich kann jedoch auch nicht verstehen, was an Austern so toll sein soll. Austern essen würde für mich nicht infrage kommen, war ich der Ansicht.

Aber ich habe es jetzt schon mehrfach hier erlebt, dass ich Dinge komisch finde und mir schwöre, dass ich dies bestimmt nicht tun würde. Wenig später bin ich ein Teil davon. Wie ein Quecksilbertropfen, der mit einer größeren Menge Quecksilber verschmilzt.
Zum Beispiel wollte ich nie den Trend mitmachen und große Kopfhörer auf der Straße tragen. Kleine Ohrstöpsel tun es ja auch und warum überhaupt Kopfhörer. Ich will ja schließlich die Sprache der Menschen hören, um französisch zu lernen und mich nicht von meiner Umwelt abschotten. Das Ding in meinem Viertel ist, dass ich nicht mal weiß, welche Sprache meine Nachbarn sprechen. Ich habe mal einen Senegalesen in einem Kaffee gefragt, wie viele verschiedene Nationalitäten es wohl auf der Marktstraße gebe. Ich kann nicht genau sagen, welches Afrikanische Land er bei seiner Aufzählung ausgelassen hat. Auf jeden Fall hat das Sprachargument contra Kopfhörer ausgedient. Jetzt habe ich welche und laufe auch leicht kopfnickend herum.

Auch die Austern habe ich zuerst abgelehnt. Doch vergangene Woche habe ich meine Ex-Mitbewohnerin Louiza in eine schicke Brasserie ausgeführt und auch so einen Eisberg mit Schalentieren drauf bestellt. Ich werkelte unbeholfen mit der kleinen Gabel in der ersten Austern-Schale herum um die weiße Muskelmasse von dem harten Panzer zu lösen. Louiza gab die Anweisungen. Ganz schön hartnäckig, das kleine Biest. Es war ein bisschen Geschick erforderlich aber es hat Spaß gemacht. Ein bisschen Salz und Zitrone und schwupp in den Mund.  Es schmeckte frisch und ein bisschen so, als wenn man im Sommer zum ersten mal ins Meer springt. Mit Brot und Zwiebelsoße war es sogar einigermaßen sättigend. Außerdem hatte es etwas Rituelles. So wie das Gefühl, das man bei Fondue oder Raclette erlebt. Man sitzt und plaudert und beschäftigt sich mit seinem Essen, bevor man es konsumiert. Das ist so schön gesellig. 
Als ich die zehnte und letzte Auster aß, hatte ich den Dreh raus: Gabel leicht geneigt an den Muskelansatz, etwa 180 Grad im Uhrzeigersinn gedreht und die Auster ist schlürfbereit. Ein Gourmand war ich jetzt, ein richtiger Austern-Esser. Auf dem Teller lagen zehn leere Austernschalen, deren Perlmut wunderschön im gedämmten Licht des Restaurants glänzte. Ich tupfte mit der Stoffserviette den Mund ab und fühlte mich ein bisschen mehr angekommen in dieser Stadt! 

Noch am Abend habe ich mit einer Studienkollegin aus Deutschland gechattet und ihr weltmännisch von meiner neuen Erfahrung geschrieben. Ihr Kommentar: "Du weißt schon, dass die Dinger noch leben, wenn man sie isst?!"
Es gab eine lange Pause.
"Hallo? Bist Du noch da?" schrieb sie.
Ich kann nicht mehr sagen, welches Gefühl nach Erhalt dieser Information stärker war. Der Ekel oder die moralische Schande, soeben zehn lebendige Lebewesen verspeist zu haben.

Ich habe noch nie Lebendiges gegessen. Bis auf ein paar Insekten beim Motorrad fahren, aber das zählt nicht. Ich konnte nicht verhindern, mir das Abendessen aus der Perspektive einer Auster vorzustellen. Da wird man erst in einer Silberschüssel auf einem Haufen aus Eis drapiert, um dann später aus seiner Behausung gerissen zu werden und zwischen den Backenzähnen eines Landsäugers zu enden. 
Leider können sich Austern nicht (oder nur kaum) bewegen und auch nicht artikulieren. Ich habe im Internet gelesen, dass ihr stärkster Muskel fast die Hälfte des Körpergewichts ausmacht, delikaterweise Schließmuskel genannt wird und ausschließlich zum Zuhalten der Schale dient. Ansonsten war die Natur sehr knauserig in punkto Körperfunktionen bei Austern: Kein Bein zum wegrennen oder weghüpfen. Nicht mal ein Finger zum protestieren. Sonst hätte ich Nichtsahnender doch inne gehalten. Ich habe leider nicht herausfinden können, ob die Tiere über Augen verfügen. Falls doch, musste zwar die letzte Auster aufgrund meiner frisch gewonnenen Gabelkenntnisse physisch am wenigsten leiden. Jedoch hat sie neun Mal mit angesehen, wie es ihren Kolleginnen erging, bevor sie selbst in meinem Rachen endete. Schrecklich.