Sonntag, 18. September 2011

Je m´en fous - mir doch egal




In Paris kommt man nicht umhin, über die Gelassenheit der Leute zu sinieren. Die Übersetzungsseite im Internet www.leo.org kennt im Französischen vier verschiedene Begriffe für das Wort Gelassenheit. Eins davon heißt flegme und ein anderes impassibilité, was auch mit dem Wort Gleichmütigkeit verlinkt ist. Wenn ich die Menschen auf den Straßen beobachte, wenn sie mir entgegen kommen und keinen Schritt ausweichen, wenn sie vor mir auf dem Bürgersteig laufen (der viel schmaler ist als in Deutschland) oder die Rolltreppe blockieren, wenn man aus der U-Bahn will und drei Mal laut Pardon sagen muss, dann ... ja dann frage ich mich, wie es diese Stadt schafft, ohne eine Explosion oder wenigstens ein kleines Amokläufchen den Tag passieren zu lassen. Nicht, dass ich mir das wünschen würde. Ich bin weit davon entfernt. Aber während in Berlin die meisten Leute gleich hyperventilierend aus dem Anzug springen, wenn jemand im Weg steht, wird darüber hier nicht mal ein Gedanke verschwendet. Seelenruhig schlendern meine Mitmenschen auf dem Radweg. Sie sehen mich und schlendern und schlendern und schlendern. Mit einer Fahrradklingel kann man hier niemanden beeindrucken.  

Heute bin ich zum Place de la Republique gefahren, um mich mit Freunden zu treffen. Ich war schon etwas gestresst, weil ich spät dran war. Auf dem Platz startete grade die fête de l´humanité. Ich kam hinter einer 20-köpfigen Trommlergruppe zum Stehen, deren Mitglieder sich entschieden hatten, sich an der engsten Stelle des Bürgersteiges, nämlich dort, wo ein Kiosk war, über ihr Repertoire zu beratschlagen. Trommeln also runter und erst mal quatschen. Der etwa anderthalb Meter breite Gehweg zwischen Kiosk und Hauswand hatte jetzt einen Korken. Ich dachte wirklich, es geht gleich weiter. Aber dem war nicht so. Die anderen Passanten, die sich hinter mir schnell aufstauten, wichen schon auf die stark befahrene dreispurige Straße aus, was wirklich gefährlich aussah, denn vorne am Bordstein kamen die Leute kaum zum stoppen, weil von hinten die Menge nachdrückte.  Doch es gab niemanden, der auch nur einen Ansatz von Erregung zeigte. Die Leute steuerten bereitwillig wie eine Horde Lemminge in den sicheren Tod. Doch die Katastrophe blieb aus und niemand kam zu schaden. Die Autofahrer bremsten gelassen, die Passanten schlängelten sich durch die stehen gebliebenen Autos. Niemand hupte, niemand schimpfte, niemand sagte Danke. Alles blieb in einem sonderbaren Fluss. Ja, Fluss ist das richtige Wort. Denn wie Wasser, dass sich bei einer Verstopfung einen anderen Weg sucht, floss auch die Menschenmenge an der anderen Seite des Kiosks vorbei. Ich war der einzige Tropfen,  der sich "Pardon, Pardon, Pardon" durch die Trommlergruppe drängelte. Wenigstens die machten dann große Augen. Das gefiel mir. Das war vertraut.

Apropos fließen. Was ich hier noch überhaupt nicht verstehe, ist der sorglose Umgang mit dem Wasser. Als ich groß geworden bin, galt es als Todsünde, den Wasserhahn beim Zähneputzen offen zu lassen. Undenkbar tagsüber im Sommer den Rasen zu sprengen, weil das meiste dann verdunstet. Wasser ist kostbares Gut, hieß es, Lebenselixier. Jeder Tropfen zählt. Ich habe aus einem Schulbuch noch das Bild von afrikanischen Frauen vor meinen Augen, die schwere Krüge auf dem Kopf balancierend halbe Tagesmärsche zurücklegen, um Wasser zu ihren Familien zu bringen.
Hier in Paris muss ich diese Erinnerungen und anerzogenen Moralvorstellungen noch einmal komplett überdenken.
In meinem Viertel leben schätzungsweise 85 Prozent afrikanischstämmige Menschen und das Wasser fließt in Strömen. Es kommt aus Hydranten, die im Bordstein eingebaut sind. Mit einem großen Vierkantschlüssel kann man die Schleusen öffnen. Das Viertel ist ein bisschen hügelig und deswegen liegen diese Hydranten an den höher gelegenen Straßenecken. Man muss hinzufügen, dass die Leute hier nicht besonders zimperlich mit ihrem Müll umgehen. Ich beobachte oft, dass drei, vier Meter zum nächsten Papierkorb für viele Leute sehr beschwerlich sind. Dabei gibt es wirklich viele öffentliche Mülleimer. Doch wenn Dose leer -  dann Signal von Kleinhirn an Hand: Peng - auf die Straße. Pfand gibt’s hier noch nicht. Und die Müllabfuhr kommt jeden Tag.
In einer Nachbarstraße ist jeden Tag Markt. So viel geballte Sorglosigkeit habe ich noch nicht erlebt. Ich will hier nicht meckern. Ich weiß bloß nicht, zu welchen Anteilen ich es bewundern oder verurteilen soll. Abgesehen davon, dass niemand bereit ist, einen Zentimeter für den anderen zu weichen, dies aber auch niemanden wirklich kümmert, sieht die Straße am Nachmittag aus, als wären drei Müllautos explodiert.
Und was passiert dann? Die Hydranten werden aufgedreht. Und das Wasser fließt fröhlich plätschernd stundenlang den Rinnstein runter. Tüten, Kartons, Essensreste, Styropor gehen auf eine vergnügliche Reise immer bergab. Am Ende wird alles, was in den Gullygittern hängen bleibt, eingesammelt. Der Rest ist unsichtbar geworden. Ich habe das anfangs für illegal gehalten aber später erfahren, dass das von der Stadtreinigung so praktiziert wird.  

Wenn ich durch die Straßen gehe, die Sonne schillert in der Brühe, dann frage ich mich manchmal, ob ich der Einzige bin, der sich Sorgen um diesen Planeten macht. Die meisten Menschen sehen aus, als wenn sie das alles nichts angeht. Aber ich bin schließlich nicht hier, um die komplette Nachbarschaft zu bekehren. Ich will ja nicht enden wie der Typ aus dem Film Muxmäuschenstill. Im Endeffekt bin ich mir nicht sicher, wie viel von dieser Pariser Gelassenheit ich mir annehmen soll. Im Straßenverkehr werde ich wohl freiwillig das Pariser Verhalten so schnell wie möglich adaptieren.

Und was die Hydranten angeht: Ich werde kleine Wassermühlen mit Dynamos in den Rinnsteinen installieren, um die Wasserkraft zu nutzen, die jeden Tag von den Sturzbächen erzeugt wird. Den Strom verkaufe ich dann der Stadt und von dem Geld bezahle ich eine Kompanie Straßenfeger. Kann das mal jemand durchrechnen?  

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