Dienstag, 4. Oktober 2011

Bei lebendigem Leibe


Neulich bin ich an einem Restaurant vorbei gegangen, in dem es Austern gab. Die Leute saßen an schicken Tischen auf dem schmalen Bürgersteig mit weißen Tischtüchern und Silberbesteck. Die eleganten Kellner brachten aufgeständerte, große Schalen (ich kenne leider den Fachbegriff nicht) mit einem Berg Crash-Eis gefüllt. Und in den Eis-Berg waren Austern gebettet. Diese Bürgersteig-Szene mutete ein wenig komisch an, denn die Gäste des Restaurants wollten sich offensichtlich die kulinarische Frische auf der Zunge zergehen lassen. Und ich kann mir dieses Ambiente ganz gut auf der Terrasse eines Strandrestaurants der Côte d’Azur vorstellen. Doch an den Tischen vorbei drängelten sich die Passanten und rissen fast die Tischdecke mit, es klingelten die Fahrräder, es gab viele Bettler. Und keine zwei Meter weiter zwängte sich der Pariser Verkehr mit all seinen Bussen, LKW , Müllautos, dutzenden Motorrollern und hunderten Autos den Boulevard entlang. Doch die Genießer an den restlos besetzten Tischen stocherten und schlürften kontinuierlich und verzogen dabei keine Miene. Ich will mich nicht, wie bereits mehrfach ausgeführt, über die hiesige Enge echauffieren. Ich kann jedoch auch nicht verstehen, was an Austern so toll sein soll. Austern essen würde für mich nicht infrage kommen, war ich der Ansicht.

Aber ich habe es jetzt schon mehrfach hier erlebt, dass ich Dinge komisch finde und mir schwöre, dass ich dies bestimmt nicht tun würde. Wenig später bin ich ein Teil davon. Wie ein Quecksilbertropfen, der mit einer größeren Menge Quecksilber verschmilzt.
Zum Beispiel wollte ich nie den Trend mitmachen und große Kopfhörer auf der Straße tragen. Kleine Ohrstöpsel tun es ja auch und warum überhaupt Kopfhörer. Ich will ja schließlich die Sprache der Menschen hören, um französisch zu lernen und mich nicht von meiner Umwelt abschotten. Das Ding in meinem Viertel ist, dass ich nicht mal weiß, welche Sprache meine Nachbarn sprechen. Ich habe mal einen Senegalesen in einem Kaffee gefragt, wie viele verschiedene Nationalitäten es wohl auf der Marktstraße gebe. Ich kann nicht genau sagen, welches Afrikanische Land er bei seiner Aufzählung ausgelassen hat. Auf jeden Fall hat das Sprachargument contra Kopfhörer ausgedient. Jetzt habe ich welche und laufe auch leicht kopfnickend herum.

Auch die Austern habe ich zuerst abgelehnt. Doch vergangene Woche habe ich meine Ex-Mitbewohnerin Louiza in eine schicke Brasserie ausgeführt und auch so einen Eisberg mit Schalentieren drauf bestellt. Ich werkelte unbeholfen mit der kleinen Gabel in der ersten Austern-Schale herum um die weiße Muskelmasse von dem harten Panzer zu lösen. Louiza gab die Anweisungen. Ganz schön hartnäckig, das kleine Biest. Es war ein bisschen Geschick erforderlich aber es hat Spaß gemacht. Ein bisschen Salz und Zitrone und schwupp in den Mund.  Es schmeckte frisch und ein bisschen so, als wenn man im Sommer zum ersten mal ins Meer springt. Mit Brot und Zwiebelsoße war es sogar einigermaßen sättigend. Außerdem hatte es etwas Rituelles. So wie das Gefühl, das man bei Fondue oder Raclette erlebt. Man sitzt und plaudert und beschäftigt sich mit seinem Essen, bevor man es konsumiert. Das ist so schön gesellig. 
Als ich die zehnte und letzte Auster aß, hatte ich den Dreh raus: Gabel leicht geneigt an den Muskelansatz, etwa 180 Grad im Uhrzeigersinn gedreht und die Auster ist schlürfbereit. Ein Gourmand war ich jetzt, ein richtiger Austern-Esser. Auf dem Teller lagen zehn leere Austernschalen, deren Perlmut wunderschön im gedämmten Licht des Restaurants glänzte. Ich tupfte mit der Stoffserviette den Mund ab und fühlte mich ein bisschen mehr angekommen in dieser Stadt! 

Noch am Abend habe ich mit einer Studienkollegin aus Deutschland gechattet und ihr weltmännisch von meiner neuen Erfahrung geschrieben. Ihr Kommentar: "Du weißt schon, dass die Dinger noch leben, wenn man sie isst?!"
Es gab eine lange Pause.
"Hallo? Bist Du noch da?" schrieb sie.
Ich kann nicht mehr sagen, welches Gefühl nach Erhalt dieser Information stärker war. Der Ekel oder die moralische Schande, soeben zehn lebendige Lebewesen verspeist zu haben.

Ich habe noch nie Lebendiges gegessen. Bis auf ein paar Insekten beim Motorrad fahren, aber das zählt nicht. Ich konnte nicht verhindern, mir das Abendessen aus der Perspektive einer Auster vorzustellen. Da wird man erst in einer Silberschüssel auf einem Haufen aus Eis drapiert, um dann später aus seiner Behausung gerissen zu werden und zwischen den Backenzähnen eines Landsäugers zu enden. 
Leider können sich Austern nicht (oder nur kaum) bewegen und auch nicht artikulieren. Ich habe im Internet gelesen, dass ihr stärkster Muskel fast die Hälfte des Körpergewichts ausmacht, delikaterweise Schließmuskel genannt wird und ausschließlich zum Zuhalten der Schale dient. Ansonsten war die Natur sehr knauserig in punkto Körperfunktionen bei Austern: Kein Bein zum wegrennen oder weghüpfen. Nicht mal ein Finger zum protestieren. Sonst hätte ich Nichtsahnender doch inne gehalten. Ich habe leider nicht herausfinden können, ob die Tiere über Augen verfügen. Falls doch, musste zwar die letzte Auster aufgrund meiner frisch gewonnenen Gabelkenntnisse physisch am wenigsten leiden. Jedoch hat sie neun Mal mit angesehen, wie es ihren Kolleginnen erging, bevor sie selbst in meinem Rachen endete. Schrecklich.

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