Mittwoch, 16. Mai 2012

Die Zahnkronen-Odyssee

oder:
Meine Abrechnung mit französischen Dentisten

Ein langes, grausliches Kapitel ist zu Ende. Nein, ich meine nicht die Regentschaft von Nicolas Sarkozy. Aber ungefähr genau so unangenehm. Ich habe gerade die Rechnung über den Eigenanteil meiner Zahnkrone bekommen. 420 Euro. Das knallt rein. Besonders, wenn man Student in Paris ist, wo einem sowieso schon das Geld aus der Tasche gezogen wird, wenn man nicht aufpasst. 
Dieser Zahn. Ich fang mal von vorne an: Ich war zehn Jahre alt, als ich mir beim Judo mit meinem eigenen Knie den halben Schneidezahn weggekickt habe. Das war eine Tragödie für einen Jungen, der bald in die Pubertät kommt. Denn die Zahnersatzkosmetik war zu DDR-Zeiten nicht die fortgeschrittenste. Und so hatte ich immer einen komischen Fremdkörper im Mund. Da wo andere Leute ein lupenreines Lachen vorweisen konnten, hatte ich einen graugelben Fleck. 
Der geniale Künstler
Die Kronen, die ich im Laufe der Zeit hatte, wurden zum Glück immer unauffälliger. Vor einigen Jahren setzte meine Zahnärztin in Kooperation mit einem sehr guten Zahntechniker meinem Zahnkomplex schließlich einen Schlussstrich. Dieser Künstler gestaltete einen wunderbaren Schneidezahn aus Keramik, der sogar Schattierungen und Aufhellungen der Nachbarzähne enthielt. Ich war so glücklich.

Bis zu dem verregneten Freitag im Dezember, als ich hier in Paris, Kaugummi kauend von der Hochschule zur Metro ging. Da machte es Knack im Mund und ich verspürte dieses unangenehme Gefühl, dass sich an meinem Schneidezahn etwas gelöst hatte. Warum jetzt? Warum hier?
Ich suchte am nächsten Tag eine Pariser Notfallpraxis auf. Ich konnte ja nicht wochenlang auf einen Termin wartend mit einem Loch im Mund herum laufen. Zumal Prüfungen vor der Tür standen. Und ich wollte unbedingt die Situation vermeiden, dass ich mein Projekt präsentiere, und mir alle auf den Mund starren? 
Mein erster Weg führte mich in eine schicke Praxis in St. Michel mit riesigem Empfangs-Tresen und einem Dutzend Kabinetten. Die Röntgenaufnahme war Pflicht und kostete 90 Euro. Das Wiederankleben der Krone hingegen nur 25 Euro. "Sie müssen jetzt aber aufpassen beim Beißen", sagte die Ärztin. Ich kam mir vor wie mein eigener Opa, war aber froh. Nicht lange. Drei Wochen später - Knack - stand ich wieder in der Praxis. Diesmal nahmen sie besseren Kleber. Der geschniegelte, junge Zahnarzt konnte zwar nett lächeln. Und es war auch kostenlos wegen der Garantie. Doch nach wenigen Wochen - Knack -  das selbe. Abermals legte ich die halbe Krone auf den Tresen. Der arrogante Empfangschef, der es wahrscheinlich nicht geschafft hatte zum Dentisten, ließ mich diesmal allerdings abblitzen. Er meinte, dass sie nicht das richtige Material hätten. Ich müsse jetzt woanders hingehen. Ich konnte ihm ansehen, dass er lügt. Er hat erkannt, dass sie mich nicht weiter ausbeuten können, weil ich immer wieder als Garantiefall kommen würde.
Die nächste Klinik in der Nähe von St. Lazare war durchgestylt wie ein Design-Kaufhaus. In der Eingangshalle: Eine Monitorwand, größer als die von Montgomery Burns. "Das kostet hundert Euro und wir übernehmen keine Garantie", sprach die Empfangsdame. Ich akzeptierte. Über den Behandlungsstühlen waren waagerecht Bildschirme angebracht, die (wahrscheinlich zur Beruhigung) Naturfilme zeigten. Ich sah ein Walross, das einen Pinguin zerfleischte, während die Ärztin mit ihrem Fingern in meinem Mund wartete, bis der Kleber trocknet. Dafür hat es auch etwas länger gehalten.
Bis zu dem Tag im Skiurlaub, den ich mit Studenten meiner Uni verbrachte. Voilà. Da war es wieder. Abends beim gemütlichen Zusammensein verspürte ich wieder das Gefühl mit der Zungenspitze, dass etwas lose ist, was eigentlich fest sein sollte. Meine Güte. Die Menschheit schleudert Satelliten ins Weltall, die Jahrzehnte lang Informationen aus den letzten Winkeln des Universums senden. Aber sie soll es nicht schaffen, so ein Stück Keramik anzukleben? Ich traf zwei Entscheidungen: 1. Sekundenkleber kaufen und selbst machen. 2. Meine Zahnärztin Frau Meese in Berlin anrufen, hinreisen, machen lassen. Frau Meese verbot mir den Sekundekleber und so lief ich die folgenden Tage im Skiurlaub mit einer Unterschichten-Zahnlücke rum.
Dann wollte ich nach Berlin fliegen. Ich wollte. Ich hatte kein Internet im Ski-Urlaub. Also bat ich eine Bekannte darum, mir den Flug zu buchen. Ich sag nicht, wer es war. Nur so viel: Sie hat es verkackt. 
An die Fahrt zum Flughafen will ich gar nicht denken. Denn vor sechs Uhr fahren nur Nachtbusse. Eine Umsteige-Orgie, die schließlich damit endete, dass ich um 5.30 Uhr am Gare de Lyon herum rannte und erfolglos nach einem Flughafenzubringer suchte. Jeder sagte etwas anderes. Manche gar nichts. Wahrscheinlich hielten sie mich für einen Penner mit Zahnlücke. Also Taxi. Noch Mal 30 Euro weg - aber ich war pünktlich am Airport. Der Typ hinterm Check-In-Schalter von Easyjet schaute verdutzt. Erst auf meinen Ausweis, dann auf seinen Bildschirm, dann auf meinen Ausweis, dann auf seinen Bildschirm. "Einen Passagier mit diesem Namen haben wir nicht!"
Meine Bekannte hatte zwar meinen Vornamen - jedoch ihren Nachnamen bei der Buchung im Internet angegeben. Ich versuchte noch alles mögliche, vom Betteln bis zum Fluchen, bei drei verschiedenen Easyjet-Angestellten. Ich prallte ab, wie ein Flummy auf Panzerglas. Ich konnte noch nicht Mal meinen Flug neu zu erwerben. Der Platz hätte ja jetzt frei sein müssen. "Leider schon verkauft", sagte der Easyjetter.
Schließlich saß ich auf einer Bank und sah den übrigen Fluggästen beim Einchecken zu. Mit gepacktem Koffer, einem 240 Euro teuren, ungültigen Ticket und einer Zahnlücke. Liebes Leben, danke -  für all deine Gaben.
Ich bekam ein paar Tage später einen Termin in Paris bei einer "richtigen" Zahnärztin, die aus Schweden stammt. Sie hat es geschafft, die Krone vernünftig zu befestigen. Wenigstens so lange bis ich wieder Zeit hatte, nach Berlin zu fliegen.
Jetzt, nach - sage und schreibe - vier Monaten und etwa 1100 Euro für sämtliche Kosten, ist alles wieder gut. Die Krone sieht täuschend echt aus und hält die knusprigsten Baguettes aus. Made in Germany. Ich mag zwar keine Klischees, aber ich muss das mal jetzt loswerden, liebe Franzosen: Ihr könnt Käse, ihr könnt Wein, ihr könnt Filme. Eure Zahnärzte jedoch sind unmotivierte Stümper, die wahrscheinlich trotzdem genug Geld für schnelle, deutsche Sportwagen haben.

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