Jedes Mal, wenn ich dieses Dokument öffne, stechen mir die Zeilen ins Auge, die ich ganz am Anfang hier in Paris geschrieben habe. "Was habe ich mir bloß dabei gedacht?" steht da als allererster Satz vom 2. August 2011. Ich war wohl nicht ganz sicher.
Ich kann mich erinnern, dass ich nach meiner Ankunft müde war, ein Schläfchen auf dem Bett in dem Durchgangszimmer gemacht habe und aufgewacht bin, als wenn jemand die Reset-Taste gedrückt hat. Keine Beziehung. Keine Freunde. Alles auf Anfang.
Ich suchte Zerstreuung im Internet, meinem letztmöglichen Kontaktmedium zu mir bekannten Leuten. Kein Internet.
Die Einsamkeit hat nicht lange angehalten. Louiza, meine Vermieterin, stellte sich bald als lebenslustige Frau heraus, die in ihrer Küche gerne mal nach Jazzmusik tanzt. Die Durchgangssituation war nicht sehr störend, denn Louiza war tagsüber kaum zuhause und ansonsten äußerst rücksichtsvoll.
Trotzdem nahm ich die erste Gelegenheit war und zog ins 18. Arrondissement zu Maja. Ich habe extrem entgegengesetzte Eindrücke aus diesem Viertel mitgenommen:
Das Zimmer winzig - aber mein eigenes Reich im sechsten Stock - mit Blick über die Zink-Dächer. Aber auch auf die Straße, wo Crack geraucht wurde. Es war toll, das rege Leben in der Marktstraße zu beobachten, von der ich am Anfang noch dachte, ich müsste meine Taschen zunähen, bevor ich sie betrete. Später grüßte ich die Händler frühmorgens, wenn ich zur Uni ging und sie ihre Schweinhälften zersägten oder Fische auf Eisberge drapierten. Jeden Abend jedoch verliert dieser Platz seinen Charme, indem er sich in eine Müllhalde verwandelt, an der dicke Nutten posieren.
Ich lief nachts mit starrem Geradeaus-Blick an der Gruppe junger Männer vorbei, die allesamt ihre dunklen Kapuzen tief ins Gesicht gezogen hatten. Immer die Geschichte von Maja im Hinterkopf, als sie wegen ihres Iphons überfallen wurde. "Bonsoir Messieurs", war das einzige, was mir einfiel.
Der immer gut duftende Friseur. |
Ich hatte Muffensausen am Geldautomaten, besonders, wenn ich die 500 Euro für die Miete abheben musste. Aber ich liebte das Kramen in den Allerlei-Geschäften oder die Momente in dem rumpligen Friseurladen mit seinen 80er-Jahre-Frisur-Fotos, wo mir ein alter, schnurbärtiger, immer gut duftender Marokkaner mit Leidenschaft und Ruhe die Haare schnitt. Es war deprimierend, mit anzusehen, wie jeden Tag der ganze Straßen-Müll mit Unmengen Wasser in die Gullys gespült wird. Aber der arabische Sandwich-Laden schräg gegenüber hat den leckersten, größten Truthahn-Kebab gemacht - zusammen mit Pommes und Getränk für fünf Euro.
Und Maja? Tja, Maja ist schon echt ne Nette. Aber wir haben, gelinde gesagt, unterschiedliche Auffassungen, was die häusliche Ordnung angeht.
Deshalb zog ich noch Mal um. Vom 18. in den 16. Von Neukölln nach Dahlem, könnte man übersetzen. Jetzt sind meine Nachbarn Snobs statt Junkies. Weiße Elite-Schule statt Afrika-Markt. Kellner im Frack statt zahnlose Fischverkäufer an der Ecke. Geschminkte Bäckerinnen-Schönheiten anstatt Auslagen mit Tier-Gedärmen.
Jeder, der mich nun nach meinem Wohnort fragt, zieht die Augenbrauen hoch und sagt: Oho, der feine Herr Student, wohl im Lotto gewonnen? Dabei hat mein Zimmer jetzt mehr Quadratmeter für den gleichen Preis. Und nicht zuletzt sehe ich von meinem Fenster aus den Eiffelturm. Abends zu jeder vollen Stunde schillernd. So wusste ich immer am Schreibtisch, dass ich schon wieder eine Stunde gearbeitet hatte und wann die Nachtschicht anfängt.
Ich bin zwei Mal umgezogen in der Zeit, obwohl ich mir am Anfang so viele Sorgen gemacht habe, überhaupt eine Unterkunft zu kriegen. Und in zehn Tagen werde ich also zum letzten Mal die lebensgefährliche Wendeltreppe mit ihren 124 Stufen hinunter steigen (mit drei großen Gepäckstücken), mit dem Bus zum Bahnhof fahren und 12 Stunden später in Berlin aussteigen. Wie werde ich dann wohl aufwachen?